Samstag, 6. November 2010

Raum für Musik: Bühne vs. Leinwand, letzter Akt

Vor über einem halben Jahr, mir ist, als lag noch Schnee, schrieb ich zuletzt ein Blog-Posting. Es handelte von den Schwierigkeiten, auf der Theaterbühne Raum für Musik zu finden. Über den Sommer hatte ich noch einmal Gelegenheit, dies gründlich zu erforschen. Nicht zuletzt aufgrund vollständiger Absorption durch den Probenprozeß habe ich hier nicht von der Arbeit an Tschechows Möwe am Düsseldorfer Schauspielhaus berichten können. Dies will ich nun nachholen, nicht ohne zuvor kurz auf die soeben aufgenomme Arbeit an der Filmmusik zu Volker Schmitts Schattenlinie zu sprechen zu kommen.

Für den 8. Dezember ist im Metropolis-Kino Hamburg die Vorpremiere von Volker Schmitts Schattenliniegeplant. Der Soundtrack hierzu beginnt, Gestalt anzunehmen. Welche Gestalt, und warum gerade diese, davon wird hier noch zu sprechen sein, aber ein zentraler Musikeinsatz im Film führt geradewegs zum Thema "Raum für Musik": er läuft unter einem Voice-over.
Was ist ein Voice-over? Im Gegensatz zum Off-Text, also der Stimme einer Figur, die in der jeweiligen Szene mitspielt, aber (gerade) nicht im Bild zu sehen ist, ist ein Voice-over ein erzählter Text gewissermaßen aus einem anderen Raum und einer anderen Zeit. Beim Off-Text könnte man, anders als beim Voice-over, durch einen gedachten Kamera-Schwenk den Sprecher ins Bild bringen. Ein Voice-over kann gleichwohl von einer Figur gesprochen werden, die in der Handlung vorkommt - bloß daß man diese Figur dann nicht den Text sprechen sieht, selbst wenn sie im Bild ist. Genau das passiert in "Schattenlinie": zwei Figuren sind mehrere Minuten lang schweigend in St. Pauli unterwegs, und dazu hört man ihre Stimmen ihre Gedanken wiedergeben. Dieses epische Moment ist die typische Funktion des Stilmittels Voice-over.
Insofern das Voice-over (wer hat das wo schon mal im Theater gehört? Bitte kommentieren!) von den spezifischen Möglichkeiten der Tonmischung im Film in besonderem Maße Gebrauch macht - intime Voice-over-Stimme gegen voll orchestrierte Musik und Straßen- bzw. U-Bahn-Lärm -, könnte der Kontrast nicht größer sein zu den Bedingungen der Düsseldorfer Möwe-Produktion. Bei der Probebühne C2 des Central in der alten Paketpost, die während der Renovierung des Großen Hauses als Hauptbühne eingerichtet ist, handelt es sich um einen leicht überakustischen riesengroßen Raum, der für die Möwe bis auf ein paar Stühle, einen niedrigen Steg, etwas Laub und einen Vorhang komplett leer bleibt.




Regisseurin Amélie Niermeyer läßt alle Beteiligten durchgehend auf der Bühne. Bis auf wenige turbulente Momente machen die Figuren Konversation in für heutige Theaterverhältnisse moderater, nachgerade "realistischer" Temperatur. Ihre starke Konzentration auf den Dialog (übrigens, Tschechow ist brillant! Wer ihn nicht kennt: unbedingt lesen/sehen!) und auf das Weitertreiben der Handlung duldet Unterbrechungen buchstäblich nur zwischen den Akten während technisch unausweichlicher Umbau-Sekunden. Momente ohne Dialog sind gespannte Stille. Es gibt drei "Sondersituationen", an denen Musik unter der Szene läuft, nämlich die Theateraufführung in der Mitte des 1. Aktes, der Beginn des 2. Aktes / Boule-Spiel sowie der Beginn des 3. Aktes / Ausklang des Abschiedsfests.

Kurzum: erstens wurde der wochenlang von allen Beteiligten betriebene Versuch, abseits dieser drei Momente sowie der drei Aktwechsel auch noch so zarte Cello-Tupfer unter der Szene zu spielen, schließlich wegen Aussichtslosigkeit eingestellt. Stört. Zweitens erlaubten die rigiden Begrenzungen des Raums für Musik jedenfalls mir lediglich so fragmentarische bzw. niedrig auflösende Elaborate, daß nicht sehe, warum ich diese als Musik im eigenen Recht rezipieren und etwa aufnehmen und online stellen sollte. Das ist einfach zu wenig.

Die (indes sehr gut vernehmlichen) Musiken zwischen den Akten sind nur drei an der Zahl, jeweils nur wenige Sekunden lang, und dazu rasen nach stundenlangem Minimalismus Schauspieler, Vorhang, Lichtwechsel, Requisiten über die sich plötzlich schnell drehende Bühne, alles Dinge, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers von der Musik weg lenkt. Von den drei oben genannten Ausnahme-Momenten mit Begleitmusik sind die letzten zwei szenisch als repetitiv bzw. monoton determiniert und stehen unter der Restriktion, daß die Schauspieler dazu ihre Texte "ganz leicht setzen" müssen, damit ihre Haltung stimmt. Bleibt einzig die Theateraufführung in der Mitte des ersten Akts. Möglicherweise machen wir davon noch mal ein Video...

Zur Abrundung noch ein Punkt, den ich im auf technische Aspekte beschränkten Raum für Musik-Posting vom vergangenen März nicht behandelt hatte, dessen Gewicht mir aber schon länger klar ist: in der Branche Große Häuser des modernen Sprechtheaters belegt Musik im Schnitt (!) einen hinteren Rang, was Sachkenntnis und - dementsprechend? - Aufmerksamkeit betrifft. Der Proporz, der sich von der durchschnittlichen Theaterprobe über die Ausgaben der Häuser bis hin zu den Sätzen pro Zeitungskritik zieht, ja gar bis in die Gesprächsanteile nach der Probe in der Kneipe, ist konstant: 40% Regie, 40% Schauspieler (35% große Rollen, 5% kleine Rollen), 15% Ausstattung, mit Glück Rest Musik. Neben individuellen Abweichungen, die wie immer beträchtlich sein können, ändert sich dieser Proporz nur durch einen wie auch immer gearteten Star-Status (nur innerhalb des Kulturbetriebs zählt!) oder persönliche Beziehungen.

Das bedeutet für die konkrete Arbeit, daß innerhalb der üblichen ca. zweimonatigen Produktionszeit kampflos nicht auch nur eine Stunde reguläre Probenzeit dafür geopfert wird, Musik auszuprobieren oder zu überprüfen. Dann wären ja Schauspieler Statisten der Musik, dann würde ja nicht Szene x weiter "gearbeitet"! Hingegen ist es vollkommen normal, daß die Musik Statisterie der szenischen Probe ist, da ja schließlich ohne die Musik, die bei der vorigen Probe hier (ein)gespielt wurde, die Schauspieler unmöglich ihre "Haltung" wiederfinden bzw. unter optimalen Bedingungen weiterentwickeln können. Zusätzlich muß die musikalische Leitung natürlich das Probengeschehen engmaschig verfolgen, um auf neue Erfordernisse kurzfristig und in Kenntnis der Materie reagieren zu können. Im Ergebnis ist demnach Anwesenheit prinzipiell erforderlich, sei es zum Beschallen, sei es, um nichts zu verpassen, ohne daß jedoch auf der Probe die Musik weiterentwickelt werden könnte. Soundcheck ab 22:30 nach Ende der Beleuchtungsprobe. "Raum für Musik".

Was ich gesagt habe, betrifft beileibe nicht alle Produktionen, in denen ich mitgewirkt habe - im Gegenteil, um ein Beispiel zu nennen, gab es bei Inferno/Purgatorio/Paradiso am Thalia Theater 2001/02, Regie Tomasz Pandur, luxuriös viel Raum für Musik, auch in der Probenarbeit. Ebenfalls ganz anders gelagert waren sämtliche Kindertheater-Produktionen. Ich hätte aber etwa mit der Volksfeind-Produktion von Anfang des Jahres exakt dieselben Punkte machen können, mit dem Unterschied, daß ich dafür sehr viel "Musik im eigenen Recht" produziert habe - bloß, daß diese dann im Stück nur noch fragmentarisch vorkommt.

Meine zweifellos vorhanden eigenen Unzulänglichkeiten, mit solchen Bedingungen umzugehen, einmal beiseite gelassen, ist für mich ein roter Faden erkennbar. Oder ein grauer... um es mit Otto Waalkes zu sagen: bei der Möwe ist mein Hemd in der ersten Hälfte mausgrau, während es in der zweiten leicht ins Aschfahle spielt. Vorhang.

Montag, 1. März 2010

Raum für Musik: Bühne vs. Leinwand

Am 20.2. war am Schauspiel Stuttgart die Premiere von Ein Volksfeind, davor hatte ich den Soundtrack zu NOWHERENOW gemacht, und als nächstes kommt wieder eine Filmmusik. Das nehme ich zum Anlaß, mir Gedanken darüber zu machen, woher die in der Arbeit und im Ergebnis so deutlichen Unterschiede zwischen Film- und über Lautsprecher eingespielter Bühnenmusik rühren.

Damit meine ich nicht die rezeptionshistorisch bedingten Unterschiede - ein epochemachender Film bzw. eine epochemachende Filmmusik beeinflußt das Kino mehr als das Theater und umgekehrt -, und auch nicht die durch Budgets, Verbreitungsgrad, Zielpublikum und die organisatorische Verfaßtheit von Staats- oder Off-Theater versus Filmproduktionsfirmen. Es gibt, so meine ich, Unterschiede, die aus grundlegenden Eigenarten des Theater- und Filmschaffens unmittelbar folgen. (Dieser Text ist, wie viele in diesem Blog, bewußt kontrovers gefaßt: ich freue mich über jeden Hinweis (Kommentar-Funktion) auf Filme oder Inszenierungen, die meine Ausführungen widerlegen!)

Zwei Aspekte scheinen mir besonders relevant. Das ist zum einen die Lautstärkeanpassung zwischen (nachsynchronisiertem) Dialog, O-Ton und Filmmusik und zum anderen die spezifischen Einsatzmöglichkeiten der Kamera, also Einstellungsgrößen/optischer Zoom, Pespektive, Kamerafahrt, Schnitt. Beides ist auf der Bühne nur in eingeschränktem Umfang möglich. Zwar gibt es auch im Theater Lautsprecher, Mikrofone, ein Mischpult, zwar kann auch im Theater Bühnenbild (und Licht, was ich hier weglasse, da es dem Filmemacher auch zur Verfügung steht) und Inszenierung allerhand eindrucksvolle visuelle Effekte erzielen. Jedoch stößt man im Theater in beiden Bereichen auf "harte" Grenzen.

Zunächst zur Lautstärkeanpassung. Beim Abmischen des Film-Tons kann das Flüstern eines Schauspielers durchaus über ein wütendes 120 Mann-Orchester gelegt werden, eine gehauchte Rohrflöte kann trotz tosenden Orkans oder gebrüllten Dialogs zur Wirkung gebracht werden. Dabei ist nicht nur der Pegel ein Parameter, sondern auch eine subtile Kombination von Panoramaregelung und Hallraum, durch die ein Schallsignal präzise räumlich platziert werden kann. Ein Dolby-Surround-Film in einem THX-zertifizierten Kino ist klanglich viel transparenter, als es eine Theaterbühne mit je nach Bühnenbild variierenden Schallreflektoren und mit sich bewegenden Schauspielern, über deren Mikrofone, wenn sie denn welche tragen, nicht nur ihre Stimme, sondern auch alle Umgebungsgeräusche aufgenommen werden, je sein kann.

Die Verwendung von Stützmikrofonen im Theater, ob am Schauspieler oder im Raum, ist grundsätzlich nicht unproblematisch, da eine Anhebung der Sprachlautstärke sehr schnell vom Zuschauer als solche wahrgenommen wird. Einerseits spürt er, daß der Schauspieler diese Lautstärke nicht selbst produziert (was in einem ordentlich gemischten Film nicht vorkommt), und andererseits registriert er die auf der Bühne nie ganz vermeidbare Klangfärbungen, Wind- und Ploppgeräusche, Amplitudenschwankungen, Trittschall, Kammfiltereffekte, Hall etc. Sobald die Mikrofonabnahme bemerkt wird, wirkt sie mindestens unnatürlich. Oft wirft sie gar die Frage nach einer szenischen Begründung auf - weshalb dann manchmal die Flucht nach vorn angetreten wird und der Schauspieler ein sichtbares Handmikrofon trägt.

Das Unterlegen von unverstärkter Sprache mit Musik auf der Bühne ist erst recht ein schwieriges Unterfangen. Wird die Musik so leise gespielt, daß die Sprachverständlichkeit darunter nicht leidet, bleibt sie häufig unterhalb eines Pegels, bei dem sie ihre Wirkung entfalten kann. Musik braucht eine Minimallautstärke, damit die bedeutungstragenden Elemente (Melodie, Harmonie, Rhythmus, Klangfarbe etc.) überhaupt ankommen. Eine zu leise gespielte Musik wirkt wie ein Störgeräusch, wie eine unspezifische Irritation. Gegenüber einer mit funktionaler Lautstärke eingespielte Musik kann zwar ein laut deklamierender Schauspieler bestehen, aber seine dynamischen Möglichkeiten sind stark eingeschränkt. Normale Gesprächslautstärke geht unter. Auch im Film gängige Faustregeln für Musik unter Sprache wie z.B. die Beschränkung auf langsame und gleichmäßige Bewegungen und das Freilassen der für die Sprachverständlichkeit wichtigen Frequenzbereiche stoßen auf der Bühne schnell an ihre Grenzen. Man hat also in der Praxis die Wahl zwischen Musik unter mikrofonierter Sprache mit allen oft unerwünschten Konsequenzen in der Wirkung, zu leiser und damit wirkungsloser oder sogar störender Musik, oder gar keiner Musik. Im Resultat ist dies ein großes Handicap im Kampf um "Sendeplatz".

Ein zweites Handicap beim Erobern von Raum für Musik ergibt sich aus der Fixierung des Theaterpublikums an einem Ort. Während dort die Zuschauer im Regelfall auf einer festen Bestuhlung Platz nehmen, stehen dem Auge im Film eine Vielzahl von Möglichkeiten offen. Dadurch erweitern sich auch die erzählerischen Möglichkeiten enorm. Die Kamera folgt einer Figur auf ihrem Weg, sie zeigt in einer Point-of-view-Einstellung, wohin eine Figur blickt, sie zoomt sich allmählich an etwas heran, sie schwenkt langsam durch eine Landschaft, ein Zimmer - all dies schafft Momente, manchmal sehr lange Momente, in denen Musik, die sich nicht unterhalb der Sprache einfinden muß, zum Bild ungehemmt ihre Wirkung entfalten kann. Ebenso hilft der Filmschnitt, ausführliche Passagen mit wenig oder fast ohne Dialog herzustellen, indem er es erleichtert, eine Handlung zu erzählen, ohne daß jemand etwas sagen muß. Klassisches Beispiel: eine Verfolgungsjagd. Eine ausführliche Action-Szene auf der Bühne spannend zu gestalten, ist ungleich schwieriger - so schwierig eben wie eine Action-Szene, die permanent in der Totale bleibt und keinen einzigen Schnitt hat. So etwas hat man im Kino noch nicht gesehen (oder doch? Manifest? Kommentar-Formular siehe unten!).

Perspektiven für die Bühne zu finden, die der Musik Raum geben, ist offenbar schwierig. Leicht wirken Musiken, zu denen nicht gesprochen wird, retardierend. Es geht nicht weiter mit der Handlung. Das müßte natürlich nicht sein; im Ballett geht es schließlich auch weiter mit der Handlung, obwohl gar nicht gesprochen wird. Hier ist vielleicht doch kein harter, sondern ein weicher Faktor am Werk, nämlich die Theatertradition, der gemäß ein Drama zunächst einmal ein Text ist. Und wenn nicht Text, dann Bild. Im Vordergrund steht die Arbeit mit den Schauspielern, die in einem stimmigen Bild, stimmig kostümiert, als Figuren stimmig agieren sollen.

Die Bühne hat mit Bezug auf den Musikeinsatz aber nicht nur Defizite gegenüber dem Film. Durch die Beschränkung auf einen Raum bzw. endlich viele Räume, die für den Zuschauer klar ersichtlich "gemacht" sind, durch die physische Präsenz von Schauspielern, die für den Zuschauer klarer ersichtlich "spielen", ist ihm der fiktionale Charakter dessen, was da abläuft, bewußter. Dieses Bewußtsein kann man nutzen, und das Theater hat es darin zur Meisterschaft gebracht. Niemand wundert sich darüber, wenn mitten auf der Bühne ein Musiker, der nie in den Handlungsverlauf eingreift, auf einem Gitarrenverstärker oder an einem präparierten Flügel sitzt und hin und wieder aufspielt. Im Film ist die Rezeptionshaltung eher, schlicht weil er es kann, die des Eintauchens in eine Welt, was die Frage nach der Rolle einer Figur naheliegender macht und so die Behauptung (wichtiges Theaterwort!) eines Musikers mitten im Geschehen schwieriger.

Allerdings gibt es hunderte von Filmen, die es gleichwohl vermögen, Behauptungen abseits des realistischen Handlungsverlaufs überzeugend vorzubringen - die unterschiedliche Rezeptionshaltung gegenüber Film und Bühne ist eben keine harte Grenze, auf die die Theatermusik im Vergleich zur Filmmusik immer wieder stieße. Diese bestehen stattdessen, so habe ich versucht zu argumentieren, zum einen in den größeren Schwierigkeiten bei der Tonmischung im Theater, die den Einsatz von Musik unter Sprache erschweren, und zum anderen fehlt der Musik auf der Bühne Raum, den durch die Kamera ermöglichte wortlose Erzählformen im Film mühelos schaffen.

Samstag, 23. Januar 2010

Topoi des Mainstream-Rock-Pop

In den Texten der deutschsprachigen Musik, die die Charts gerade bevölkert, geht es, wie schon immer in der populären Musik, vorwiegend um Liebe (ich lasse beiseite etwa die ebenso alte Lust an Tabubruch und Härte z. B. bei Rammstein oder Bushido und konzentriere mich ganz auf den uneingeschränkt TV-Soap-fähigen Indie-Rock-Pop-Elektro-Soul-Mainstream von Silbermond, Rosenstolz, Ich + Ich, Xavier Naidoo etc.). Man ist verzweifelt auf der Suche oder nicht, lernt jemanden kennen oder nicht, es klappt oder nicht, man ist miteinander glücklich oder nicht, betrügt sich oder nicht, trennt sich oder nicht. Es gibt aber ein paar Auffälligkeiten, finde ich. Topoi, die momentan Hochkonjunktur haben.

Diese vier hervorstechenden Topoi moderner Mainstream-Pop-Songtexte (mehr? weniger? andere? comment in!) passen genau zu der musikalischen Analyse des CDU-Werbesongs von vor einem Monat unter dem Titel Die Geburt des Mainstreams aus dem Geiste des Protests. Den Schluß dieses Postings paraphrasierend kann gesagt werden: Normierte Songtexte erzeugen und bestätigen normierte Gefühle, sie wickeln uns ein in schöngefärbte Watte, in der wir uns wohlfühlen - und funktionieren, als Käufer und als Stimmvieh. Hier sind sie also, die vier Säulen dieses Konzepts:

1. Gib' mir ein kleines bißchen Sicherheit
So heißt es in "Irgendwas bleibt" von Silbermond. Weiter am selben Ort:
Bitte schwör', daß, wenn ich wiederkomm'
Alles noch beim Alten ist
Das ist Konservativismus in Reinkultur, aber bei gleichzeitigem Delegieren jeder Verantwortung für den Erhalt des Guten und Schönen. Denn, wohlgemerkt, "wenn ich wiederkomm'" meint nicht, wenn ich wie jeden Tag von der Arbeit nach Hause komme. Sondern wenn ich von irgendwelchen Eskapaden, die ich nicht verantworten möchte (siehe Nr. 2 unten), wieder zu Dir zurückkehre. Bei "Ich bin ich" von Rosenstolz heißt es etwa:
Bitte stell jetzt keine Fragen
Denn ich würde nur bereun
Hätt ich mich an Dir verbogen
War bestimmt nicht immer treu
Doch ich hab Dich nie betrogen.
Das ist eine mystische Dialektik, nach der die Untreue - also die Weigerung, dem anderen Sicherheit zu geben - gleichwohl kein Betrug ist, der die Aufkündigung der gewährten Sicherheit rechtfertigen würde. Besser nicht fragen, dann käme bloß heraus, daß man sich die Sicherheit gegenseitig bloß vorgaukelt. Damit man sich keine Sorgen machen muß.

Der Wunsch nach Sicherheit wird oft in einen Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Wärme gestellt und mit der eigenen Orientierungslosigkeit und Verlorenheit ohne den Anderen (siehe Nr. 3 unten) kontrastiert. So etwa in "Pflaster" von Ich + Ich:
Du bist der Kompass wenn ich mich verlier’
Du legst dich zu mir wann immer ich frier’
Im tiefen Tal wenn ich dich rufe, bist du längst da

2. Es ist einfach so passiert
Daß die gepriesene bzw. eingeforderte Sicherheit nur Schein ist, folgt unmittelbar aus dem zweiten Gemeinplatz moderner Pop-Lyrik. Die Verantwortung für das eigene Tun kann leider nicht übernommen werden wegen der Schicksalhaftigkeit des ganzen Lebens. Fast kein Songtext kommt ohne Wendungen wie "es ist einfach so passiert" oder "jetzt mit Dir kann alles geschehen" aus, in denen die Liebe oder Kümmerformen davon über einen kommen, ohne daß man sich dagegen wehren kann.

Gut, das ist im Arztroman oder beim Schlagertext auch nicht anders, könnte man einwenden. Aber in der klassischen Schnulze ist eher ein überirdisches, ewiges, über allem Schmutz der Dinge stehendes Schicksal gemeint, das wie die erhabene Naturgewalt die Liebe größer macht als alles, was einem zufällig heute oder morgen gerade einfällt. Bei Rostenstolz & Co. werden die Vorkommnisse in Liebesdingen durch ihre Schicksalhaftigkeit stattdessen klein gemacht. Kann nix dafür. Ich bin eben so. Rosenstolz:
Ich bin ich, das allein ist meine Schuld
In den hier besprochenen Songtexten wimmelt es dementsprechend nur so von Natur-Metaphern, die dieses einem authentischen Befindlichkeits-Naturzustand Ausgeliefertsein versinnbildlichen sollen, etwa bei Ich + Ich in "Was wäre ich ohne Dich?":
Ich weiss nicht wohin der Sturm uns weht
[...]
Was wäre ich ohne dich?
Ein Blatt im Wind allein
Besonders penetrant wird die Weigerung, Verantwortung für sich zu übernehmen, im Sub-Topos (*harharhar*) "Ich weiß ja so wenig über mich". Man macht sich scheinbar klein nach der Methode "bin ja selbst noch ein Kind, wie soll ich da die Verantwortung für Nachwuchs übernehmen?" als Alibi für ein Leben als Trittbrettfahrer. Wieder einmal "Ich bin ich" von Rosenstolz:
Bin doch gestern erst gebor'n
Und seit Kurzem kann ich geh'n
Oder ebenfalls Rosenstolz in "Bist Du dabei":
Hab die Hälfte nur begriffen
Die andere Hälfte war zu schwach

3. Die Welt da draußen ist so kalt
Was es beim Schlager auch so nicht gibt, ist das Jammern über eine Welt ohne Sicherheit und Wärme. Dieses Jammern hat nun nicht nur die Funktion, den Kontrast zur Sicherheit und Wärme der besungenen Beziehung zu schärfen. Es soll den Songtexten auch den Anstrich von Kritik an bestehenden Verhältnissen geben und sie so mit dem revolutionären Impetus des Rock der 60er und 70er assoziieren. Von dieser Alibi-Funktion, die weniger in den Texten als vielmehr in der Musik installiert wird, handelt der oben schon zitierte frühere Blogeintrag.

Gleichwohl ist noch bei den gefühlsduseligsten Bands das besorgte Erörtern von Umwelt-, Sozial- und Beziehungsmißständen, über die sich alle einig sind, eine Selbstverständlichkeit. Kein Album kann erscheinen ohne einen Song zum Klimawandel, der Konsumgesellschaft, AIDS, Ausländerfeindlichkeit oder, wenn dem Management kein zum Image der Band passendes und gut vermarktbares Kümmernis einfällt, einfach einem "Die Welt da draußen ist so kalt"-Gesülze. In "Stadt" von Cassandra Steen und Adel Tawil werden, statt sich der schwierigen Entscheidung für einen Mißstand zu stellen, gleich ein halbes Dutzend in zwei Strophen angerissen:
Es ist so viel soviel zu viel
Überall Reklame
Zuviel Brot und zuviel Spiel
Das Glück hat keinen Namen

Alle Straßen sind befahren
In den Herzen kalte Bilder
Keiner kann Gedanken lesen
Das Klima wird milder
Vollkommen unspezifisch, aber dafür mit der Kraft eines echten Nonkonformisten Xavier Naidoo in "Alles kann besser werden":
Ich will raus aus dieser Scheiße hier

4. Du kannst es schaffen
Das Protest-Gehabe darf natürlich auf keinen Fall pessimistisch oder gar depressiv wirken, im Gegenteil: die schlimmen Zustände (Nr. 3) können alle abgestellt werden, wenn man es nur wirklich will. Jeder ist ein Held. Auch geht es nicht um die Abschaffung bestehender Strukturen, es wird hier um Gottes Willen nicht zum Umsturz aufgerufen! Nein, wenn man nur die richtige Einstellung hat, kann man alles schaffen - dieses Thema liegt dem religiös verbrämten Xavier Naidoo besonders am Herzen, etwa in "Alles kann besser werden".

Was genau getan werden muß, um "es" zu schaffen, darüber schweigt man sich lieber aus. Mal wieder Rosenstolz, "Willkommen":
Ihr bekommt uns nicht
Ihr versteht doch nicht
Was wir wirklich wollen
Werden wir bereuen
Keine Helden sein
Gründen kein Verein
Sagen gerne nein
Sagen dazu nein
[...]
Willkommen in unsrer Welt
Aber es geht ja auch gerade nicht darum, etwas zu tun, sondern im Gegenteil darum, sich so zu fühlen, als würde man durch das Hören der richtigen Musik die Welt schon zu einem besseren Ort machen. Wenn man diese nicht raubkopiert hat, macht man die Welt damit immerhin für die Bandmitglieder und Produzenten zu einem besseren Ort.

Montag, 18. Januar 2010

Das Konzertgeschäft: The Winner Takes It All

Guten Beitrag über die Marktentwicklung bei Live-Auftritten gelesen. Zwei Zitate, die deutlich machen, weswegen ich den Text für rebloggenswert (Neologismus? Google-Suche = 0 Treffer; "rebloggen" immerhin 2,99 Mio. Treffer) erachte:
"Gut läuft es nur für die Großen, für Madonna, die Rolling Stones oder U2. Gerade mal zwanzig Bands weltweit generieren die Mehrheit der Umsätze im Konzertgeschäft, rechnet Frith vor. Alle anderen spielen in der Regel nicht einmal die Kosten ein."
"Einerseits scheffeln die Megastars Gewinne, andererseits muss sich ein Künstlerprekariat auf die Neverending Tour begeben, denn es wird kaum ein Niveau erreichen können, auf dem es sich selbst finanziert. Konzerte von U2 oder den Rolling Stones funktionieren immer – dank Fans, die alle vier Jahre kommen, sich für neue Musik aber nicht mehr interessieren. Ein "heikler Nostalgie-Faktor" sorge dafür, dass für Stars immer Geld da ist, das dem Nachwuchs wiederum fehlt."
+ Der Artikel von Kolja Reichert auf ZEIT online

Mittwoch, 30. Dezember 2009

Ohrwurm-Folter

Vielleicht war es den Vereinten Nationen, als sie 1997 die Dauerbeschallung mit lauter Musik als Foltermethode sanktionierten, einfach zu kompliziert, auch die Beschallung mit zugleich schlechter und eingängiger Musik als Folter zu brandmarken. Für eine verheerende Wirkung muß ein fieser Gassenhauer nicht besonders häufig wiederholt werden, und schon gar nicht laut. Er setzt sich mit Leichtigkeit als Ohrwurm im Kopf des beklagenswerten Opfers fest und frißt dort dann ganz von allein weiter. Wahrscheinlich befände sich die ehrwürdige Organisation im permanenten Rechtsstreit mit Schlagerproduzenten, deren Elaborate durch die entsprechende UN-Kommission als potentielle Foltermusik geächtet wurden. Wahrscheinlich müßte dieselbe Kommission schon vor der Aufgabe kapitulieren, angesichts der riesigen Unterschiede in den Rezeptionsvoraussetzungen überhaupt festzumachen, welche Musik zum Quälen welcher Menschen geeignet und demnach zu ächten ist. Wahrscheinlich würde die hochkarätig besetzte Kommision sich mit dem Kommentar selbst auflösen, daß so, wie sich ein Messer nicht nur dazu eignet, Zwiebeln zu würfeln, sondern auch jemanden zu töten, letztlich jede Musik dazu mißbraucht werden kann, jemanden bis zum "Brechen des Willens" zu foltern (siehe Linkliste unten).

Als Bewohner einer in diesem Ausmaß historisch, räumlich und sozial selten vorkommenden Insel der Sorglosigkeit (Deutscher in Deutschland 2009, finanziell und sozial situiert, kein Risikoberuf wie z.B. Soldat etc.) bin ich echter Folter natürlich noch nie begegnet. In der Alltagssprache wird "Folter" aber auch als Hyperbel verwendet für beliebige unangenehme Situationen, denen man kurzfristig nicht entrinnen kann, besonders, wenn jemand einen genau deswegen in so eine Situation bringt: "Spann' mich nicht länger auf die Folter und sag' mir endlich, was es zum Nachtisch gibt!". Die durch eine, sagen wir, unwillkürliche Vorstellung von als schlecht empfundener Musik verursachte Pein hat auf mein Leben einen so großen Einfluß gehabt, daß ich die Bezeichnung "Ohrwurm-Folter" für mich irgendwo in der Mitte zwischen der rhetorischen und wörtlichen Bedeutung von "Folter" einordnen würde.

Als Schüler habe ich mir, statt zu kellnern oder Ferienjobs zu suchen, mit Tanzmusik etwas Geld verdient. Freunde, mit denen ich auch in Klassik-Ensembles und Jazzbands zusammenspielte, waren auch mit dabei, und beim Nachspielen der Cover-Songs entwickelten wir eine Art sportlichen Ehrgeiz. Das Repertoire reichte von Songs, die mir ziemlich gut gefielen, bis hinab in die Niederungen des Schlagers, von denen einige besonders penetrante Ohrwürmer bei mir ziemlich bald regelrechte Haß-Anwandlungen hervorriefen. Gerade die einfältigsten Melodien verfolgten mich oft bis in den Schlaf. Nach einem Auftritt, bei dem der Bandleader - ein Gymnasiallehrer, also für mich Teenie eine Autorität - in einem unerträglichen Akt vorauseilenden Gehorsams wieder einmal "Das Mädchen Adelita" durchgesetzt hatte, passiert es: ich liege im Morgengrauen, abgrundtief erschöpft vom Auftritt bis weit nach Mitternacht, Abbau, einstündiger Autofahrt, Einräumen der Instrumente in die Garage des Bandleaders, bleierner Heimfahrt, endlich im Bett. Mit aufgerissenen Augen. Das Mädchen Adelita hört nicht auf zu spielen. Die falsche Fröhlichkeit des Songs bringt mich an den Rand der Verzweifelung. Ich stehe auf, lege mich wieder hin, lese etwas, höre ein bißchen Miles Davis - nichts hilft. Das Mädchen Adelita. Ich warte bis 10:00 Uhr, bin ja kein Unmensch, rufe dann den Bandleader an und kündige.



Ich mache seither, egal wie nett oder harmlos der Kontext, egal wie kurz, egal wie intensiv mit dem Spaßbremsen-Verdikt bedroht, keinen Gesellschaftstanz mit, obwohl ich mit Sechzehn den Fortgeschrittenen-Kurs und auf dem Abschlußball die Silbermedaille auf die Reihe bekommen habe. Von größerer Tragweite ist mein Schlager-Trauma für die Arbeit als Band- und Theatermusiker: wann immer und aus welchem Grund auch immer Schlager, Kitsch, Trash, Bad Taste, "schlecht, aber lustig" o.ä. in der Ferne auftaucht, werde ich sonniges Gemüt plötzlich unerwartet kompliziert. Der Tanzbandleader ist nicht der Einzige geblieben, dem ich deswegen gekündigt habe, und meine liebsten musikalischen Freunde fragen mich für Kitsch-verdächtige Projekte gar nicht erst an.

Zum Thema Musik als Folterinstrument (ohne Ohrwurm-Aspekt):

+ Bad Vibrations
+ A History of Music Torture in the "War on Terror"
+ Music As Torture: War Is Loud
+ Music As Torture / Music As Weapon
+ Statement against the use of music as torture

Zum Thema Ohrwurm:

+ Can't Get It Out Of My Head (ohne Folter-Aspekt)
+ Wenn einmal der Wurm drin ist (mit Folter-Aspekt)

Dienstag, 8. Dezember 2009

Die Geburt des Mainstreams aus dem Geiste des Protests

Aus Gründen, über die noch zu sprechen sein wird, habe ich mir den CDU-Song zur Wahl 09 "Wir sind wir" angehört. Geschrieben und produziert von Leslie Mandokie, früher Sänger von "Dschingis Khan" grusel (für diejenigen, die aus Angst den Link nicht anklicken: klingt wie das gewogene Mittel aus Rosenstolz, Xavier Naidoo und allen Musikeinspielungen in deutschen TV-Soaps der letzten Jahre). Der Song hat mich an eine Frage erinnert, die mich 2008 im Zusammenhang mit der Bühnenmusik zur Judith von Shimoda schon umgetrieben hatte: Was ist die Musik der Mitte, zu der alle dazugehören sollen, wenn sie keine Sonderlinge oder gar Abweichler sein wollen? Was ist die Musik des Marktes, dessen Gesetzen sich alle unterwerfen sollen, wenn sie nicht Spaßbremsen oder gar Wachstumsverhinderer sein wollen? Mit anderen Worten: mit welcher Musik wird heute, mitten in Deutschland, eigentlich noch Propaganda gemacht?

Vorbemerkung: in den westlichen Demokratien gibt es im Unterschied zu den hierzulande einst gängigen totalitären Regimes natürlich keine eigenständige Propaganda-Musik als Gattung mehr, allein schon, weil die Strukturen nicht mehr existieren, aus denen heraus eine solche Musiktradition sich speisen könnte. So ist etwa das Militär musikalisch vollständig marginalisiert. Auch aus den Parteien (wie u.a. der CDU-Song deutlich macht), Gewerkschaften und ähnlichen Organisationen kommt keine spezifische Musik.

Stattdessen gilt: "Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg". Ein sich selbst verstärkender Mechanismus normiert fortlaufend einen Mainstream, der sich ganz langsam und vorsichtig weiterentwickelt, immer orientiert am Chart-Erfolg und der Zweitverwertung in TV-Serien, Soaps und Werbung. Komposition und Produktion erfolgt in enger Anlehnung an das, was der Markt in jüngster Vergangenheit nach oben gespült hat. Die mediale Verwertung auf allen Kanälen massiert die Musik dann in die Mainstream-Gehirne ein mit dem Resultat, daß sie kommerziell erfolgreich ist - und die Schleife geht wieder von vorn los.

Die Einheitskost (ja, diese Metapher ist eine Anspielung auf McDonalds & Co., da funktioniert es nämlich genau so), die dabei herauskommt, ist nicht ideologisch gemeint, sondern ganz harmlos auf maximalen Markterfolg bei minimalem Risiko getrimmt. Heute wird Nonkonformismus ja nicht mehr verboten, sondern er geht einfach in der Informationsüberflutung und der vielfach höheren Vermarktungspower der Mainstream-Produktionen unter. Jeder kann machen/hören, was er will, keiner protestiert, aber man kann ja ignorieren, weglächeln, nicht kaufen.

Bei der Judith-Inszenierung war die Musik der von der Gesellschaft wegen ihres Nonkonformismus geächteten Protagonistin zugeordnet und daher das Thema nicht Dekonstruktion des Mainstream, sondern Aufbegehren gegen die Berieselung, die sozusagen freiwillige Konformität erzwingt. Die Einnordung nicht hinnehmen! Konsumverzicht! Protest!

Doch welche Musik könnte diesen Protest verkörpern? Überraschende Feststellung: das ist gar nicht so einfach! Denn praktisch jeder Musik gewordene Protest wird im Laufe der Zeit vom Mainstream schleichend assimiliert. Die schiere Lautstärke des Schlagzeugs und verzerrten Gitarren der '68er waren einmal ein Fanal - heute sind sie in jedem VW Golf zu Hause. Was einmal "Independent" oder "Gangsta" war, ist heute, geschrumpft zu Indie-Rock-Pop bzw. Shiny-Suit-Rap bei den Majors angekommen. In der Werbung für Sportschuhe, Autos und Mobiltelefon-Provider verkommt der Hauch von Wildheit dann endgültig zur Attitüde.

Bei Judith bestand die Aufgabe darin, der Protagonistin eine Musik zu geben, bei der man sich einfach nicht vorstellen kann, für welches Produkt oder welche Partei damit geworben werden kann. Klang dann so:

Judith-Medley by fritzfeger

Auch die CDU setzt auf diese Insignien von Pseudo-Jugendlichkeit, um möglichst Viele zu erreichen und möglichst Wenige zu verprellen. Der Song hat ein pseudo-hartes Schlagzeug, pseudo-protestlerische Zerr-Gitarre, pseudo-coole Gesangsphrasierung, pseudo-emotionaler Belting-Stimmsitz. Das ist Schlager, das ist Kitsch. Den Text zu zerpflücken, erspare ich mir hier; das haben andere schon getan, z.B. hier, hier und hier.

Hochinteressant ist der Vergleich des CDU-Songs, sowohl bzgl. Text als auch bzgl. Musik, mit diesem Elaborat von Rosenstolz:



Vor einem Jahr hatte ich mir noch notiert: Daß der Berieselungs-Mainstream schlecht ist, muß nicht mehr bewiesen werden. Das wissen sowieso alle, und alle wissen auch, wofür er steht: für nichts. D.h. nichts, das man durch ihre Dekonstruktion mitdekonstruieren könnte. Das sehe ich jetzt anders. Normierte Musik erzeugt und bestätigt normierte Gefühle, sie wickelt uns ein in schöngefärbte Watte, in der wir uns wohlfühlen - und funktionieren, als Käufer und als Stimmvieh. Es ist wichtig zu verstehen, warum diese Musik sich zur Selbstvergewisserung der Mitte so gut eignet. Das meint auch Marcel Reich-Ranicki:

[…] die Mehrheit des Volkes liest keine Literatur, jedenfalls keine, die sich ernst nehmen ließe. So konnte die herrliche Literatur der Weimarer Republik mit Thomas Mann an der Spitze politisch (gegen den Nationalsozialismus) nichts bewirken. Es gehört übrigens zu den Sünden der Literaturkritik, daß sie sich damals um die Trivialliteratur, beispielsweise die Romane der Hedwig Courths-Mahler, überhaupt nicht gekümmert hat. Man hätte zeigen müssen, wie das Zeug gemacht ist. […]

Für den Fall, daß die Kritik dann keiner liest, könnte auch der Versuch hilfreich sein, Mainstream "von innen her unmöglich zu machen", d.h. Musik mit der Oberflächenästhetik des Mainstream zu produzieren, in der sich dann aber Abgründe auftun. Na dann.

Donnerstag, 19. November 2009

Neuropop?

Nachdem ich heute beim Mittagessen mit meiner Frau und dem Neurowissenschaftler Axel Lindner über unsere gemeinsame Präsentation am Samstag an der Schnittstelle Mensch gesprochen habe, verweise ich wegen der assoziativen Nähe auf eine Website, auf die mich der Fledermausgesangsforscher (yeah!) Hans-Ulrich Schnitzler aufmerksam gemacht hatte: neuropop.com. Deren James Bond-mäßige Selbstdarstellung:

"NeuroPop uses the math behind the mind to create weapons grade sound design. We use our proprietary Neurosensory Algorithm (NSA) technology to modify any sounds or music to activate specific parts of the listener’s brain and get the emotional responses you want."


Auf der Grundlage von Ergebnissen der aktuellen neurowissenschaftlichen Forschung soll jeder beliebige Klang, also auch Musik, so modifiziert werden können, daß er bestimmte neurophysiologische Effekte hervorruft. Etwa als "sonic branding" ein unbewußter Wiedererkennungseffekt, Streßreduktion, Einschlaf-Hilfe, Aufmerksamkeitssteuerung oder gezielt bestimmte Emotionen. Das das "Waffenarsenal" der Klangbearbeitung würde damit signifikant über die bisher schon bekannte Psychoakustik hinausgehen.

Auf der Website gibt es einige "Toys", an denen ich jedenfalls nicht den echten Fortschritt gegenüber aus vor-neurowissenschaftlicher Zeit Bekanntem erkennen kann. Ich bezweifle ja gar nicht, daß z.B. das eine Klangereignisse unmittelbar neuronale Prozesse anregt, die mit psychischer Entspannung korreliert sind, während ein anderes Klangereignis vielleicht bei sonst gleichen Bedingung ein Gefühl von Bedrohung induziert. Aber ich bezweifele, daß diese Effekte bei sonst nicht gleichen Bedingungen noch signifikant sind, etwa wenn die gleiche Hirnregion per "Neurosensory Algorithm (NSA) technology" in zwei im Ausdruck auch nur leicht verschiedenen Musikstücken stimuliert werden soll.

Eine massive Wissenschaftler-PR-Übertreibung ist natürlich die Ankündigung, auf diese Weise ein "get the emotional responses you want" zu ermöglichen. Das geht heute für bestimmte Regungen (und keinesfalls für jede gewünschte Emotion) mit direkt in den fraglichen Hirnregionen platzierten Elektroden. Aber mit Klängen? Mit Spannung erwarte ich diesbezüglich den Vortrag von Eckart Altenmüller vom Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin Hannover zum Thema "Musik als universale Sprache der Emotionen?" am Freitag Abend im Kupferbau in Tübingen.